Die Aeoliden

Parnassische Dichtung von

Charles Marie René Leconte de Lisle () 


Oh Brisen, die Ihr aus den Himmeln herabweht,
Ihr zarten Atemzüge des schönen Frühlings,
die Ihr mit launenhaften Küssen
die Berge und Ebenen streichelt!

Ihr Jungfrau'n, Ihr Töchter des Aiolos,
Liebhaberinnen des Friedens –
bei Euren Gesängen erwachet die ewige Natur.
Und die Dryade, auf feuchtem Laubwerke sitzend,
vergießet über die Moose die Tränen der feuerroten Aurora.

Kehret Ihr etwa zurück vom Eurotas aus grünem Schilfröhricht,
treue Jungfrauen,
indem Ihr kristallklare Wasser berührt
wie ein lebhafter Schwarm von Schwalben?

Als die heiligen Schwäne dort anmutig-strahlendweiß schwammen,
und als dort ein Gott auf den Blumen des Ufers mit Wonne sich wogte,
da blähtet Ihr auf den Schnee ihrer Flanken gänzlich mit Liebe
unterm entzückten Blick der gedankenversunkenen Gattin.

Aber dort, wo Euer Aufflug säuselnd ertönt,
ja dort, da füllt sich die Luft mit Düften und Harmonie:
kehrt Ihr zurück aus Ionien
oder vom grünen Hymettos im goldenen Honig?

Aeoliden ich grüß' Euch! Oh Ihr, frische Botinnen,
Ihr freilich seid's, die über der Wiege der Götter schon sangen;
und der reine Ilissos hat mit melodischer Welle
den Flaum Eurer leichten Flügel gebadet.

Als Theogenes abends am Milchpass
nahe der Welle tanzte,
habt Ihr ihm über dem blonden Haupte ausgesäet
die Rosen von Milet.

Ihr Nymphen mit den geflügelten Füßen, weitab vom Flusse Homers,
der später dem Lauf folgt, wo der Alpheus auf blauen Wellen der Arethusa nachstellte,
am Busen (oder: bis in den Schoß) der bitterlich weit sich erstreckenden Ebene,
dort auf der Insel,
die der wellenförmigen Windstreiche beste Ernährerin ist,

dort unter der Platane, wo man sich schützt
vor den glutroten Pfeilen des Tages,
ja dort habt ihr einst von der Liebe geseufzt
auf den Lippen des Theokrit.

Zefiros, Iapix und Euros, auf so frischem Fluge habt Ihr,
gleich dem Lachen der Götter, mit dem die Erde sich schmückt,
dem einsamen Schäfer
das ersehnte Geschenk der Muße im Schatten der Wälder gespendet.

Zu der Zeit, wo die Biene summt
und flieget beim Zuschnitt der Lilie,
hat Euch der Mantuaner
unter dem Astwerk von Amaryllis erzählt.

Ihr habt auch gehört, als Ihr Euch in die Blätter gekauert,
wie schöne, von Myrthen bekränzte Jünglinge,
wechselnd Gefechte errötend eröffneten,
erstaunlich mit Kunst das träge Kontern verkettend,

während die Greise, in die Toga gehüllt
und tief im Schatten des Dickichts stehend,
die Lobrede, den geschmückten Pokal
oder den Sturmbock verliehen.

Ihr bewegtet die Weide, dort wo Galatea lächelt,
und, indem Ihr den Nymphen die tränenbeladenen Augen küsstet,
wiegtet Ihr in deren Grotte entrückt
Daphne auf ländlichem Leichentuch, funkelnd von Blumen.

Als nun die Jungfrauen mit Alabasterkörpern,
den die Götter und Menschen liebten,
Tauben trugen in ihren Händen und fühlten,
wie ihre Herzen vor Liebe hoch schlugen,

da sanget Ihr ihnen ganz leise einen bezaubernden Traum ein;
die Hymnen der Venus, die göttliche Wolllust;
und Ihr zoget zugleich deren Ohr hin zu den Klagegesängen des Mannes,
der auf der nächtlichen Schwelle als Liebhaber weint,
und den das Herz kann erahnen.

Oh! Wieviele angebetete Arme und Schultern
habt Ihr am Rande der heiligen Quellen geküsst,
dort auf dem Hügel an dem bewaldeten Abhang!

Dort in den kleinen Tälern, in den italischen Feldern,
auf den azurblauen Inseln, die eine glutrote Welle stets badet,
öffnet Ihr dort wohl noch immer den Flügel,
oh Aeoliden, antike?
Lacht Ihr noch immer im Lande der Sonne?

Oh, Ihr mit Thymianduft parfümierten,
geheimen Bande der zarten Flöten Vergils
und der sizilianischen Schilfrohre,

Ihr, die Ihr einstmals schon weintet auf den Lippen des Genius,
Ihr Brisen der göttlichen Monate,
ach, so besuchet uns doch erneut!
Flößet uns doch im Vorbeiziehn mit Euren Urnen aus Gold die Ruhe und Liebe,
die Anmut und Harmonie wieder ein!


Deutsche Übersetzung: Dr. Judith Strickling / Harald Sattler

Französischer Originaltext: Les Èolides